Neoexpressionismus und Neue Wilde: Sozialkritik und Sinnlichkeit

Neoexpressionismus und Neue Wilde: Sozialkritik und Sinnlichkeit
Neoexpressionismus und Neue Wilde: Sozialkritik und Sinnlichkeit
 
Als Reaktion auf die verbraucht scheinenden Formeln der abstrakten Kunst, des Tachismus und des Informel, begann sich in Deutschland Mitte der Sechzigerjahre langsam eine Rückkehr zur gegenständlichen Malerei abzuzeichnen. Auf überholt geglaubte künstlerische Positionen zurückgreifend, setzten HAP Grieshaber und Horst Antes das Erbe des Expressionismus fort. Auch die Gruppe von Malern um Karl Horst Hödicke, Bernd Koberling und Markus Lüpertz, die sich 1964 in Berlin zur Ausstellungsgemeinschaft »Großgörschen 35« zusammenschloss, besann sich wieder auf die vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten der Figuration. »Neoexpressionismus« hieß oft auch Rebellion gegen das konservative Klima der »Wirtschaftswunderjahre«: In Anknüpfung an »Cobra« führte das politische Engagement der Münchner Gruppe »Spur« nicht nur zu kollektiven Malaktionen und Skulpturenensembles, sondern auch zu scharfen, vom Staat strafrechtlich verfolgten Polemiken und Pamphleten gegen die Gesellschaft der Adenauer-Ära.
 
Ähnlich erging es Außenseitern wie Georg Baselitz und Eugen Schönebeck, die mit ihren schockierenden Bildern Anfang der Sechzigerjahre von Edvard Munchs skandalösen Gemälden zehrten. Obwohl Baselitz, der wie Lüpertz aus der Deutschen Demokratischen Republik nach Westberlin übergesiedelt war, markante Aussagen zur gesellschaftlichen und politischen Situation Deutschlands gelangen, spielt er immer wieder auf die ideelle Ungegenständlichkeit seiner Bilder an: Indem er seit 1968/69 seine Bilder auf den Kopf stellt, sucht er den Blick des Betrachters vom Motiv abzulenken.
 
Nach einer Begegnung mit dem damals noch in Dresden lebenden A. R. Penck wandte sich Jörg Immendorf einer subjektiven Historienmalerei zu, die das Thema der deutschen Teilung aus der Perspektive persönlicher Betroffenheit reflektiert. Seit 1976 entstand eine Serie von Bildern mit dem Titel »Café Deutschland«, in denen Immendorf im bewussten Gegensatz zu Renato Guttosos »Caffè Greco« eine Düsseldorfer Diskothek zum Austragungsort des Ost-West-Konflikts wählte. Private Horizonte und politischer Sinngehalt vermischen sich in seinen Arbeiten zu expressiven Bilderrätseln, die sich einer eindeutigen Aussage entziehen.
 
Auch Lüpertz vermied eine plakative Vereinnahmung seiner geschichtlich aufgeladenen Bildmotive Stahlhelm und Spaten, Trauben und Ähren. Mit der Metapher der »Dithyrambe«, einer antiken Gesangsform, nahm er sich die Freiheit, triviale Gegenstände bis zur Unkenntlichkeit zu stilisieren, aber auch abstrakte, dekorative Formen ohne Zwang zur Figuration in seine Malerei einzubinden. Dennoch scheute auch Lüpertz vor einem »Rückfall« in abstrakte Stilweisen zurück und wandte sich in den Achtzigerjahren verstärkt einer expressiven Bildsprache zu, die mythologische und kunstgeschichtliche Zitate zu einer archaischen Bildwelt verbindet.
 
Inhaltlich brisanter bleiben die Bilder von Anselm Kiefer, dessen bewusste Verwendung von Emblemen und Symbolen der deutschen Geschichte als »Deutschtümelei« kritisiert wurde. Seine in Dachböden, Ruhmeshallen oder romantisierende Waldlandschaften hineinprojizierten heroischen Gestalten und Assoziationsfelder erproben jedoch lediglich die inszenatorische Potenz der Malerei, ohne sich der Macht der Symbole anheim zu geben. Deren Verknüpfung mit der informellen Substanz der Bilder, in denen Kiefer Fotos, Sand, Stroh, Pflanzen, Glas, Blei, verkohltes Holz und Asphalt verarbeitet, bleibt dem Betrachter überlassen. Über diese Materialschlachten und die historischen Versatzstücke triumphiert aber immer wieder die Palette des Malers, die Innovationskraft der Malerei.
 
Der manchmal hermetischen Verschlossenheit von Kiefers Bildern ist zumindest im Entwurf die Malerei von Penck entgegengesetzt, der aus der Verschmelzung verschiedener Kulturepochen - von der Höhlenmalerei bis zum digitalen Zeitalter - eine komplexe Zeichensprache entwickelte. Seine signalhaften Chiffren verwarf Penck 1980 nach seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland. Statt weltumspannender Verständigung setzte der umtriebige Maler, Bildhauer und Schlagzeuger danach wieder auf einen persönlichen Code, in dem Biographisches und Allgemeingültiges in der Art eines Rebus zusammentreffen.
 
Auch in der Deutschen Demokratischen Republik fanden trotz der Kunstdoktrin des »sozialistischen Realismus« in der »Leipziger Schule« Vertreter einer neoexpressiven Bildsprache zusammen. In der Tradition von Max Beckmann und Otto Dix stehend, setzten sich Bernhard Heisig und Wolfgang Mattheuer mit der totalitären Herrschaft des Nationalsozialismus wie auch den zeitgenössischen Missständen auseinander. Die Spannbreite ihrer Themen und Motive reicht dabei von Satiren auf politisches Kalkül und Zeremoniell über Umweltkatastrophen, Jugendrevolten und Geschlechterkonflikten zu ganz persönlichen Abrechnungen in wilder Malwut.
 
Die Bilder der Neoexpressionisten, mit denen die deutsche Kunst nach 1945 wieder internationale Bedeutung erlangte, erzielten auf dem Kunstmarkt enorme Preise. Anfang der Achtzigerjahre wurde aber immer deutlicher, dass ihre politisch oder gesellschaftlich motivierten Gebärden verbraucht waren; der Rüstungswettlauf zwischen den Supermächten, ökologische Krisen und die wachsende Verelendung der Dritten Welt schienen die Sinnlosigkeit politischer Agitation deutlich gemacht zu haben. Übrig blieb der Wunsch zu malen, der »Hunger nach Bildern«, wie das 1982 erschienene Buch von Wolfgang Max Faust die Situation der deutschen Malerei treffend beschrieb. Ein dominierender Stil der »Neuen Wilden«, wie man die den »Fauves« verwandten Maler dieser Dekade nannte, war dabei nicht mehr auszumachen. Der Rückzug in eine subjektive Innerlichkeit brachte keine Neubelebung abstrakter Bildmuster zum Vorschein, sondern eine Explosion figurativer Bildwelten. Die »heftige Malerei« aus Berlin - vertreten durch Bernd Zimmer, Helmut Middendorf, Rainer Fetting und Salomé - versank aber bald im Kielwasser eines modischen New-Wave-Exhibitionismus. Grelle Farbigkeit, stilistische Persiflage und absurd-freche Provokation kennzeichnen auch die Bilder von Elvira Bach und Martin Kippenberger. Zeitgleich entwickelte sich im Rheinland eine quirlige Kunstszene, in der sich sehr unterschiedliche Künstler für kurze Zeit unter dem Banner der »Mülheimer Freiheit« zusammenschlossen; auch sie scheuten sich nicht, die Grenzen des »guten Geschmacks« und ethischer Tabus zu überschreiten.
 
Auch wenn ihre Protagonisten mittlerweile zu hoch dotierten Stars der Kunstszene avanciert oder unter dem wachsenden Erfolgsdruck zerbrochen waren, zeugte doch gerade diese künstlerische Aufbruchsstimmung von einer schier unerschöpflichen Lust am Malen und Bilder Erfinden, die vor keiner Regel Halt machte. Das war aber nur der Kamm einer Welle, die international über die erstarrte Avantgarde hinwegbrandete und unter Markenzeichen wie »Neue Wilde«, »Transavanguardia«, »Arte Ciffra«, »Nouvelle figuration« oder »Pattern painting« schrillen Zynismus und blinde Malwut, ungehemmte Spielfreude und lustvolles Lebensgefühl in die versumpften Kanäle von Kunst und Gesellschaft einschleuste: Die unsentimentale Respektlosigkeit dieser Generation hatte das verkrustete schematische Denken und verkopfte Wissen einer zum hohlen Schein verkommenen Kunstauffassung hinweggefegt.
 
Dr. Hajo Düchting
 
 
Kunst des 20. Jahrhunderts, herausgegeben von Ingo F. Walther. 2 Bände. Köln u. a. 1998.
 Thomas, Karin: Bis heute. Stilgeschichte der bildenden Kunst im 20. Jahrhundert. Köln 101998.

Universal-Lexikon. 2012.

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